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„Das Leben besteht aus Entscheidungen“

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Noch immer ist er einer der bekanntesten Fußballakteure der Schweiz. Als Urs Meier Ende 2004 offiziell seine Schiedsrichterkarriere beendete, hatte er in 27 Jahren 883 Spiele geleitet. Zwei Weltmeisterschaften, zwei Europameisterschaften und unzählige Champions League Spiele. Seitdem agiert er als TV-Experte in Deutschland und der Schweiz und als Berater für die FIFA und UEFA. Im Interview mit GOKIXX, blickt Urs Meier nicht nur auf seine Karriere zurück, sondern gibt auch Tipps zum Umgang mit Druck, Treffen von Entscheidungen und zur Übernahme von Verantwortung.

Urs Meier - San Siro

Bildquelle: imago

GOKIXX: Hallo Urs, herzlichen Willkommen im Interview mit GOKIXX. Die Nachwuchstalente in der GOKIXX-Community träumen von einer Karriere als Fußballprofi. Hattest Du auch diesen Traum?

Urs: Ja, natürlich. Seitdem ich denken kann, wollte ich Fußballprofi werden. Ich habe immer wieder dieselben Bilder in meinem Kopf gehabt, wie ich für die schweizerische Nationalmannschaft im San Siro gegen die Italiener in der 90. Spielminute mit einem Fallrückzieher das entscheidende 1:0 erziele. Mein Vater hat mir dann viele Steine in den Weg gelegt, denn in unserem Dorf ist man in den Turn- und nicht in den Fußballverein gegangen. Erst mit zwölf Jahren durfte ich in einen Fußballverein, da war es dann aber schon zu spät. Wahrscheinlich hätte ich es aber auch sonst nicht geschafft, weil mir einfach das nötige Talent gefehlt hat. Das habe ich dann schon mit 14 Jahren eingesehen. Trotzdem hatte ich weiterhin den Traum vom San Siro. Da habe ich dann entschieden, dass ich Schiedsrichter werden will. Von da an war die Schiedsrichterkarriere für mich das wichtigste. Wie es der Zufall so wollte, hatte ich dann auch im Alter von 31 Jahren mein allererstes internationales Spiel im San Siro. Zwar nur als Assistent, aber im Viertelfinale der Landesmeister vor über 80.000 Zuschauern. Später habe ich noch einige Spiele in dem Stadion geleitet und es hat sich immer wieder gelohnt dort einzulaufen.

GOKIXX: Warum hat das San Siro eine solche Bedeutung für Dich?

Urs: Meine Faszination für das San Siro entstand in den 60er-Jahren. Als kleiner Junge habe ich mit meinem Großvater immer die internationalen Spiele geschaut. Meist liefen die am Mittwochabend und irgendwie hatte ich das Gefühl, dass immer in Mailand gespielt wurde. Da war immer entweder der AC oder Inter Mailand. Die Größe, die Stimmung – all das hat mich fasziniert. Kein anderes Stadion konnte dem San Siro je das Wasser reichen. Dieser Fußballtempel hat eine eigene Ausstrahlung und ist ganz speziell für mich.

„Während meiner Karriere wollte ich immer die schwierigen Partien pfeifen, die sonst niemand leiten wollte.“

GOKIXX: Was hat Dich besonders am Schiedsrichterdasein gereizt?

Urs: Die Vielfältigkeit und Herausforderung. Ich vergleiche es oft mit Bergsteigen. Du machst zuerst die einfachen Berge, dann werden die Berge höher und die Routen werden schwieriger. Dadurch entsteht der Reiz. Als Schiedsrichter ist das ähnlich. Während meiner Karriere wollte ich immer die schwierigen Partien pfeifen, die sonst niemand leiten wollte.

GOKIXX: Als Schiedsrichter muss man in kürzester Zeit viele Entscheidungen treffen. Wie hast Du Dich trotz einer möglichen Fehlentscheidung weiter auf das Spiel konzentriert und hast den Fokus nicht verloren?

Urs: Ob Du eine Fehlentscheidung getroffen hast oder nicht, weißt Du grundsätzlich immer erst nach dem Spiel. Deswegen sollten sich Schiedsrichter in der Halbzeitpause auch keine Szenen anschauen. Das beeinträchtigt die Leistung und führt zwangsläufig dazu, dass man etwas korrigieren möchte. Das Korrigieren hat immer etwas Negatives. Das bemerken auch die Spieler auf dem Feld und man verliert als Schiedsrichter die Persönlichkeit.

„In Drucksituationen habe ich stets versucht Kontakt aufzunehmen, um zu zeigen, dass ich präsent bin und meine Entscheidungen treffe. Ich habe aber auch Situationen genutzt, um mich selbst zu spüren.“

GOKIXX: Wie hast Du es geschafft mental stark zu sein?

Urs: Du musst schon selbst stark sein – auf Augenhöhe. Ich habe immer versucht den Zuschauern, Spielern und auch dem Umfeld auf Augenhöhe zu begegnen. Das Umfeld erwartet diese Augenhöhe und ich erwarte vom Umfeld dasselbe. In Drucksituationen habe ich stets versucht Kontakt aufzunehmen, um zu zeigen, dass ich präsent bin und meine Entscheidungen treffe. Ich habe aber auch Situationen genutzt, um mich selbst zu spüren. Bei einem Eckball habe ich mich beispielsweise in einem festen Stand hingestellt und gezeigt, dass ich präsent bin. Das hat mir und meinem Körper eine gewisse Kraft gegeben. Das habe ich dann immer wieder versucht im Spiel umzusetzen.

GOKIXX: Du hast bei zwei Weltmeisterschaften gepfiffen, warst bei zwei Europameisterschaften dabei und hast sogar ein Champions League-Finale geleitet. Alles Spiele, in denen ein enormer Druck herrscht. Wie bist du mit diesem Druck umgegangen? Hattest du Rituale vor solchen Spielen?

Urs: Jeder Sportler hat ein Ritual. Mir war von Anfang an klar, dass ich mich an nichts binden möchte, was nicht vorhanden sein könnte. Ich musste etwas haben, was immer bei mir ist. Das war der Fußballplatz. Beim Warmmachen hatte ich immer einen Moment, in dem ich allein und für mich war. In dieser Zeit habe ich mich dann fokussiert. Meistens habe ich dann den Rasen abgerissen, dran gerochen, draufgebissen und mir gesagt: „Mit meiner Leistung werde ich es schaffen, dass ich wieder in so ein Stadion zurückkehre.“ In diesem Moment habe ich alles um mich herum ausgeblendet. Der Druck in den Champions League-Halbfinals war dabei fast noch höher, weil es darum geht, wer überhaupt ins Finale einzieht. (Anm. der Redaktion: Urs Meier hat 7 Halbfinal-Spiele der UEFA Champions League geleitet.)

Urs Meier - WM

Bildquelle: imago

„Besonders wichtig ist es bei solchen Entscheidungen, dass Du Dich auf Dich selbst und nicht auf Dein Umfeld verlässt. Du musst in Dich hineinhorchen und herausfinden, ob Du bereit bist, diesen Schritt zu gehen.“

GOKIXX: Nachwuchstalente müssen auch im jungen Alter viele Entscheidungen treffen. Sei es ein Wechsel ins Internat oder der Auszug aus dem Elternhaus. Hast Du da für die Jungs einen Tipp, wie man aktiv Entscheidungen treffen kann, ohne sie weiter vor sich hin zu schieben?

Urs: Das Leben besteht aus Entscheidungen. Das fängt schon als Kind oder Jugendlicher an. Besonders wichtig ist es bei solchen Entscheidungen, dass Du Dich auf Dich selbst und nicht auf Dein Umfeld verlässt. Du musst in Dich hineinhorchen und herausfinden, ob Du bereit bist, diesen Schritt zu gehen. In der Regel spürst Du, ob Deine getroffene Entscheidung, die richtige ist. Dabei muss man auch junge Menschen ernstnehmen und sie in ihrer Entscheidung aktiv unterstützen. Wenn sich das eigene Kind entscheidet, dass es in ein Internat möchte, dann muss ich es als Elternteil auch unterstützen. Ob es dann richtig oder falsch ist, wird er oder sie dann später schon selbst merken. Einfach machen. Es geht um das eigene Gefühl und das eigene Gespür, das nur Du hast. Selbst wenn Du Dich dazu entscheidest, noch ein Jahr zu warten, weil Du Dich unsicher fühlst. Das ist immer zunächst Deine Entscheidung. Die muss dann auch akzeptiert und unterstützt werden.

GOKIXX: Wie guckst Du heutzutage Fußballspiele? Achtest Du eher auf den Schiedsrichter und sein Verhalten?

Urs: Mittlerweile habe ich gelernt, nur das Fußballspiel zu schauen. Das hat aber sehr lange gedauert. Ich habe 2004 mit meiner aktiven Schiedsrichterkarriere aufgehört und war dann gemeinsam mit Jürgen Klopp bei der WM 2006 als Experte im ZDF tätig. Wir haben uns ein Spiel angeschaut und ich habe ständig Kommentare über das Verhalten und die Bewegungen des Schiedsrichters abgegeben. Die haben logischerweise nicht zu den Aktionen der Spieler auf dem Platz gepasst. In der Halbzeit hat mich Jürgen Klopp dann gefragt, welches Spiel ich mir überhaupt angucken würde. (lacht) Heute mache ich das nicht mehr. Nur bei extremen Fehlentscheidungen oder offensichtlichen Fehlern mache ich noch eine Analyse oder übe Kritik im Rahmen meiner Tätigkeit als Experte beim Schweizer TV-Sender Blue.

GOKIXX: Geht man als Schiedsrichter mit einem jungen Nachwuchsspieler anders um als mit einem alteingesessenen Spieler, der schon länger dabei ist?

Urs: (überlegt) Jein. Wenn Du einen alteingesessenen Spieler hast, dann weißt Du natürlich, wie Du mit ihm umgehen musst. Genauso weiß er wahrscheinlich auch, wie er mit Dir umgehen muss. Das hilft dann beiden Seiten. Junge Spieler treten meistens anders auf und sind manchmal schon gehätschelte Stars. Die müssen dann auch lernen, wie es abläuft. Früher waren das oft die alten, eingesessenen Spieler, die die jungen Spieler herangeführt und ihnen verboten haben mit dem Schiedsrichter zu sprechen. Es gibt auch viele junge Spieler, die unglaublich anständig und fokussiert sind. Aber es gibt auch welche, die Du als Schiedsrichter zurechtweisen musst. Wenn der Trainer oder die Mitspieler es nicht machen, dann muss es der Schiedsrichter tun. Das ist nicht gegen die Spieler selbst, sondern eher für sie. Als Schiedsrichter musst Du den Spielern vermitteln, dass Du für sie da bist. Dazu gehört auch die Spieler zu schützen. Sowohl vor den Gegnern als auch vor sich selbst. Kommunikation spielt da eine wichtige Rolle. Die Art und Weise der Kommunikation hängt dabei oft vom Gegenüber ab.

„Als ich mir dieses Ziel gesteckt habe, wusste ich, dass es Etappenziele gibt, die ich auf meinem Weg erreichen muss. Diese Etappenziele habe ich dann so präzise wie möglich definiert. Das große, übergeordnete Ziel ist dann wie ein leuchtender Stern, der Dich auch auf dem Weg hält, wenn es mal nicht so gut läuft.“

GOKIXX: Hast Du einen Tipp für junge Nachwuchsspieler auf ihrem Weg zum Fußballprofi?

Urs: Immer wieder an sich selbst arbeiten und eigene Ziele setzen. Das darf auch ein großes Ziel sein. Als ich 18 Jahre war, habe ich gesagt, dass es mein Ziel ist als Schiedsrichter bei der Fußballweltmeisterschaft 1998 tätig zu sein. Das entsprach einer Zeitspanne von über 20 Jahren. Ich wurde damals belächelt und mir wurde Größenwahn unterstellt. Als ich mir dieses Ziel gesteckt habe, wusste ich, dass es Etappenziele gibt, die ich auf meinem Weg erreichen muss. Diese Etappenziele habe ich dann so präzise wie möglich definiert. Das große, übergeordnete Ziel ist dann wie ein leuchtender Stern, der Dich auch auf dem Weg hält, wenn es mal nicht so gut läuft. Das wichtigste ist, dass Du nicht aufgibst, wenn Du mal ein Etappenziel nicht erreicht hast. Bleibe dran und versuche Dich weiterzuentwickeln. Zeige Selbstbewusstsein, arbeitete an Dir selbst und gebe niemals anderen die Schuld für Deinen eigenen Misserfolg. Qualität setzt sich immer durch. Wenn sie sich nicht jetzt durchsetzt, dann mit Sicherheit in naher Zukunft. Aber sie wird sich durchsetzen.

„Visionen ohne Taten sind Träume. Taten ohne Visionen sind verlorene Zeit. Visionen und Taten zusammen können die Welt verändern.“